Im Jahr 2000 betrug die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen zwölf Sekunden, 2013 war sie bereits auf acht Sekunden gesunken – und ist damit eine Sekunde kürzer als die eines Goldfischs!
Ich mag Goldfische, finde es allerdings bedenklich, wenn deren intellektuelle Leistung über denen der Menschen liegt. Natürlich nur bezogen auf die Aufmerksamkeit…
Wir stecken aktuell mitten in der digitalen Transformation. Kein Grund zur Sorge, denn die Weiterentwicklung und Anpassung an neue Gegebenheiten ist uns Menschen immanent. Diesen Text lesen Sie nicht gedruckt in einer Zeitung oder Zeitschrift, sondern online – in meinen Blog, auf Facebook, via Twitter oder in Google+. Sie nutzen dazu ganz selbstverständlich Ihr Smartphone, Tablet, Laptop, einen PC oder eventuell sogar mehrere dieser Geräte abwechselnd. Warum? Weil die Information jederzeit nach Ihrer Lust und Laune abrufbar ist. Und weil es schnell geht und bequem ist.
In der heutigen, digitalen Welt werden Nachrichten immer kürzer gehalten und manchmal – wie beim Tweet – auf 140 Zeichen oder – wie beim Emoji – sogar nur noch auf ein Bild reduziert. Warum? Weil es schnell geht und bequem ist… Und weil die menschliche Aufmerksamkeitsspanne immer weiter abnimmt.
Microsoft Canada hat Ende 2014 eine quantitative Studie mit 2.000 Kanadiern sowie zusätzlich neurowissenschaftliche Tests mit 112 Probanden zu den Auswirkungen des digitalen Lebensstils auf die Aufmerksamkeit von Konsumenten durchgeführt. Die Forschungsergebnisse wurden Mitte 2015 veröffentlicht und sind so interessant, dass ich ihnen nicht nur meine Aufmerksamkeit schenke, sondern auch noch eine Zusammenfassung schreibe.
Ich unterstelle dabei, dass die Key-Learnings der kanadischen Studie auf digital aktive Nutzer der westlichen Welt übertragen werden können. Die Ergebnisse sind deshalb m.E. besonders für Unternehmensinhaber, Marketers und Werbungtreibende interessant, denn wir sprechen hier von Menschen und damit auch von Konsumenten und (potentiellen) Kunden. Und: Aufmerksamkeit ist nun einmal die Basisvoraussetzung für eine gelungene Kommunikation und damit für effektives Marketing.
Lebensstil und Aufmerksamkeit
45 % aller Befragten lassen sich sehr leicht ablenken bei dem, was sie machen.
Die nachhaltige Aufmerksamkeitsspanne verteilt sich in den Altersgruppen ähnlich: Sie liegt bei den 18-34 Jährigen bei 31 %, bei den 35-54 Jährigen bei 34 % und bei den über 55 Jährigen bei 35 Prozent. Auch bei der Betrachtung nach Geschlechtern ist der Unterschied zwischen Männern (33 %) und Frauen (31 %) mit 2 Prozent marginal.
1. Das erste Learning ist also: Digitale Verhaltensweisen und digitale Lebensstile korrelieren mit der Aufmerksamkeit – mit dem Alter hingegen nicht. Es sind also nicht nur die „Jüngeren“ bzw. „digitale natives“, die eine veränderte Aufmerksamkeitsspanne aufweisen, sondern altersunabhängig alle Menschen, die digital unterwegs sind!
2. Die langfristige Fokussierung verringert sich mit erhöhtem digitalem Konsum, Social Media-Nutzung und technischem Verstand.
3. Insgesamt hat ein digitaler Lebensstil negativen Einfluss auf eine verlängerte Aufmerksamkeitsspanne. Der Nervenkitzel etwas Neues zu finden, bringt die digital Aktiven dazu, von einer Erfahrung in eine andere zu wechseln. Die Neurotransmitter Dopamin, der für gute Gefühle verantwortlich ist, wird freigesetzt, wenn die Nutzer etwas tun, das sie lohnend finden. 19 % der befragten Online-Nutzer werden deshalb bereits in den ersten 10 Sekunden abtrünnig.
Um den Verlust dieser Nutzergruppe zu bekämpfen, sollten zunehmend allgemeingültige Multi-Touchpoint-Erfahrungen in den Fokus rücken. Taktiken wie Branded Content, native Werbung und generell sinnvoller, unterhaltsamer und teilbarer Content sind am besten für Konsumenten, die jeden Augenblick etwas Neues suchen.
Aufmerksamkeitstreiber
Diese vier Haupt-Faktoren beeinflussen die Aufmerksamkeit:
1. Umfang des Medienkonsums
Wenn nichts ihre Aufmerksamkeit fesselt, langen die Hälfte aller Befragten automatisch zum Smartphone.
2. Nutzung Sozialer Medien
Zweidrittel aller Befragungsteilnehmer nutzen soziale Medien für Nachrichten, allerdings bevorzugen 57 Prozent ausführlichere Quellen als Informationsmedien.
3. Technische Adaptionsrate
59 % aller Befragten fühlen sich ohne die Geräte, die sie jeden Tag nutzen, verloren.
Das Digitalverhalten beeinflusst die Fähigkeit, für eine längere Zeit fokussiert zu bleiben, negativ. Einige Befragten versuchen trotzdem zu trainieren, durch geballte Aufmerksamkeit Informationen effizienter zu verarbeiten.
4. Multi-Screen Verhalten
Zweidrittel der Befragten nutzen während des Fernsehens noch andere Geräte.
Multi-Screening reduziert dabei nicht den potentiellen Einfluss von Werbung – es verbessert vielmehr die Fähigkeit, effektiv zwischen Aufgaben zu wechseln und emotionale Verbindungen sowie Erinnerungen zu speichern.
Multi-Screen-Nutzer sind allerdings weniger effektiv bei der Ausfilterung von Ablenkungen und zudem immer hungrig nach etwas Neuem. Das bedeutet, dass Unternehmen und Marken härter arbeiten müssen, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Entsprechend muss sich auch das Marketing entwickeln.
Handlungsempfehlungen für ein aufmerksamkeitsstarkes Marketing
Was konkret kann das Marketing und die Werbung nun tun, um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen und damit eine erhöhte Reaktionsbereitschaft des Konsumenten zu erreichen?
1. Seien Sie klar, persönlich, relevant und (schnell) auf den Punkt.
Adressieren Sie die nachhaltige Aufmerksamkeit („sustained attention“) Ihrer Kunden:
Technische Adaption, Social Media-Nutzung und Multi-Screening Verhaltensweisen bringen mit sich, dass Konsumenten immer schlechter darin werden, eine längere Zeit aufmerksam zu sein.
Sie sind aber in der Lage, durch geballte Aufmerksamkeit und effizientere Speicherung, mit weniger Aufwand mehr zu machen.
2. Seien Sie anders, widersprechen Sie Erwartungen, bleiben Sie in Bewegung mit Rich Media, also Inhalten, die optisch und akustisch durch Video, Audio oder Animation angereichert werden und fokussieren Sie sich in Ihrer Botschaft auf Einfachheit.
Adressieren Sie die selektive Aufmerksamkeit Ihrer Nutzer:
Das Ausfiltern von Ablenkungen steht zwar in keiner Relation zur technischen oder Social Media Nutzung oder dem Medienkonsum, aber es nimmt mit zunehmendem Multi-Screening ab.
Marken müssen entsprechend die Aufmerksamkeit von Konsumenten halten, um dem Wettbewerb mit anderen Reizen Stand zu halten.
3. Integrieren Sie Handlungsaufforderungen, seien Sie interaktiv und beziehen Sie Konsumenten ein, verwenden Sie sequentielle Messaging-Dienste und bieten Sie konsistente Erfahrungen über alle Geräte.
Adressieren Sie die wechselhafte Aufmerksamkeit („alternating attention“) Ihrer Konsumenten:
Digitale Lebensstile verbessern die Fähigkeit, zwischen Aufgaben zu wechseln, allerdings nur bis zu dem Punkt, ab dem Konsumenten überfordert werden.
Was Nutzer auf einen Blick sehen können, entscheidet oft, was sie als nächstes tun. Falls sie durch den Input überwältigt sind oder es ihnen an Motivation fehlt, ihn zu verarbeiten, wird ihr Verstand ihn nicht annehmen.
Deshalb gilt für alle drei Aufmerksamkeitstypen:
- Vermeiden Sie unnötige Informationen.
- Beseitigen Sie Ablenkungen. PC, Tablet und Smartphone sind inzwischen zu Torwächtern einer unendlichen Anzahl von Ablenkungen und gleichzeitig zu Quellen sofortiger Befriedigung geworden.
- Und halten Sie sich an die wichtigste Botschaft: Wenn etwas keine bedeutende Rolle spielt, ist es nicht notwendig!
Fazit
Die Digitalisierung ist per se keine Bedrohung für Marketer. Sie stellt einige Herausforderungen, schafft allerdings auch erhebliche Chancen.
Im heutigen vernetzten Zeitalter ist der digitale Medienkonsum selbstverständlich und Menschen passen sich an die große Informationsmengen, denen sie jeden Tag ausgesetzt sind, an. Da die Verbreitung von Multi-Screening zunimmt und Konsumenten weiterhin neue Technologien annehmen, wird sich der Trend zu einer rückläufigen Aufmerksamkeitsspanne insgesamt fortsetzen.
Die zunehmenden digitalen Lebensstile machen Menschen effizienter in der Informationsverarbeitung und im Abspeichern von Erinnerungen. Das bedeutet, dass Marken kreativere und zunehmend eindringlichere Wege finden müssen, um sich selbst zu vermarkten und die Konsumenten zu involvieren.
Marken müssen sich zudem von der demografischen Segmentation verabschieden, weil digitale Lebensstile und Verhaltensweisen wesentlich stärker an Aufmerksamkeit gebunden sind als an das Alter.
© Simone Philipp Management 2016
Alle Prozentangaben stammen aus dem Microsoft Research Report „How does digital affect Canadian attention spans?“